Die Ferne

1. Mai 2022

 

foto Der lichtarme Zustand drohte inzwischen Gewohnheit zu werden, so lange lebten wir schon begrenzt unter einer grau diffusen Schicht. Den Tag über musste drinnen das Licht eingeschaltet werden, wenn man es einmal halbwegs hell haben und sehen wollte, was man eigentlich tat, so dick war die wochenlang durchgängige Wolkendecke.

Irgendwo da oben drüber musste sie sein, die Sonne, hob irgendwann eine vage Erinnerung ins Bewusstsein. An einem dieser tristen Wochenenden kam dann der spontante Entschluss, einen Anlauf zu wagen, diese Isolationsschicht zu durchbrechen.

Nahebei liegt mit dem Großen Feldberg eine Erhebung, die das Zeug hat, Wolken zu überragen, sie zurückzuhalten, umzuleiten. Und so schwangen wir uns ins Auto und fuhren einfach Richtung Himmel, so weit es eben ging.

Kurz vor dem Gipfel plötzlich ein Wechsel von der allgegenwärtigen Trübnis. Nur kurz einzelne Sonnenstrahlen, wie durch die Bäume tastende Finger, bevor mit einem Mal gleißende Helligkeit die Nebelschwaden flutete.

Ehe wir uns versahen, befanden wir uns über einem endlosen Meer von Wolken, ein Eindruck, der von einer geringfügig niedrigeren Anhöhe verstärkt wurde, die unweit unseres Standorts wie eine Insel durch die Wolken stieß.

So weit das Auge reichte, erstreckte sich eine homogene Schicht aus Watte, die sich rings um uns herum in alle Himmelsrichtungen an die tannenbewaldeten Hänge schmiegte. Von oben von einem sonnenbeschienen Weiß beschaffen, mit dessen Intensität wir kaum den Horizont auszumachen vermochten.

Die friedliche Schönheit verströmte gemeinsam mit den Sonnenstrahlen eine Wärme, die augenblicklich vergessen machte, ja kaum glauben liess, dass diese Schicht von zarter Sahne überall eine in lichtlos graue Trübnis getauchte Welt bedeckte.

Die Ferne war wieder gegenwärtig und wir mochten nicht mehr weichen.





 

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